Medien werden immer stärker zu „Enthüllern“ und skandalisieren Vorgänge und Personen in Politik und Wirtschaft. Die Verdrängung gewachsener Unternehmensreputationen durch die Reputation ihrer Führungskräfte macht Unternehmen skandalanfälliger. Die Thesen dieses Gastbeitrags zum DNWE-Expertenforum vertrat Prof. Dr. Kurt Imhof, Soziologisches Institut der Universität Zürich, auf der DNWE-Jahrestagung am 24. April in Bonn. Eine Kurzfassung des Beitrags steht nun im DNWE-Expertenforum zur Diskussion:
Die intensivierte Durchwirkung der öffentlichen Kommunikation mit moralischen Urteilen ist ein auffallendes Faktum seit der Deregulation der Medien insbesondere in den 80er Jahren. Das möglichst erschlagende moralische Urteil hat im entbrannten Aufmerksamkeitswettbewerb die Nase vorn. Besonders fällt auf, dass sich diese Skandalisierungswellen nicht nur auf politische Institutionen, Organisationen und Personen bezieht, sondern insbesondere die ökonomischen Akteure betreffen. Das erhöht die Reputationsvolatilität ökonomischen Handelns.
Der Skandal ist ein etablierter Deutungsrahmen für moralische Verfehlungen von Personen oder Personengruppen und impliziert die Existenz kollektiv verbindlicher Normen und Werte. Die erfolgreiche Skandalisierung eines Skandalisierten durch einen Skandalisierer markiert im Fluss korrekten Handelns den offenbar gewordenen Sündenfall. Mittels Skandalruf deutet der Skandalisierer eine Handlung als Ärgernis und gibt dieses als Enthüllung gegenüber einem Skandalpublikum preis. Insofern bezeichnet „Skandal“ den Einbruch von Unordnung in die soziale Ordnung. Indem der Skandalruf einen Missstand propagiert, beansprucht er gleichzeitig die Geltung der Normen und Werte dieser Ordnung und fordert ihre Wiederherstellung. Obwohl Skandale mit dem Attribut des Einzigartigen auftreten, sind sie in ihrer Häufigkeit und Varianz ein guter Indikator, um hinter der schillernden Vielfalt dieser Ärgernisse die Grundlagen sozialer Ordnung freizulegen.
Skandale gehören zur Moderne wie das Salz in die Suppe; über erfolgreiche Skandalisierungen im Vorfeld der Revolutionen an der Schwelle zur Moderne entstand die moderne Öffentlichkeit, die Verbindung von verfasstem Staat und Gesellschaft und der Anspruch auf demokratische Rechtsetzung. Diese Problematisierungsfunktion öffentlicher Kommunikation ist und bleibt ein notwendiges wie charakterisierendes Bestandteil der Moderne. In den Netzwerken öffentlicher Kommunikation kandidieren permanent Problematisierungen des guten und gerechten Lebens um Aufmerksamkeit: Dieses seismographische Instrument moderner Gesellschaften erlaubt es, Probleme der sozialen Ordnung gesellschaftsweit wahrzunehmen und dem politischen System zur Bearbeitung aufzugeben. Problematisierungen des Bestehenden, die im Medium der öffentlichen Kommunikation genügend Aufmerksamkeit akkumuliert haben, bilden einen Input für das politische System, das dann seine Prozessroutinen unterbrechen muss, um sich dem problematisierten Zusammenhang zuzuwenden. Auf diese Weise wird Aufmerksamkeit – also Definitionsmacht – legitim in politische Macht verwandelt.
Zeitreihenanalysen von erfolgreichen Skandalisierungen erlauben eine Beschreibung von Krisen- und Umbruchperioden im sozialen Wandel. In diesen Perioden erhöhter Unsicherheit gesellschaftlicher Entwicklung vervielfachen sich die Zahl und die Intensität von Skandalisierungen. Entsprechend sind etwa die Revolutionen an der Schwelle zur – und in der – Moderne außerordentlich skandalisierungsintensiv.
Solche Skandalisierungen sind Moralisierungswellen, die Norm- und Wertkonflikte in der Gesellschaft widerspiegeln. Durch die „Eichung“ des politisch Korrekten für unsere Alltagsinteraktionen und über Rechtsetzungsprozesse werden solche Moralisierungswellen gesellschaftsweit handlungsorientierend. Insofern ist die öffentliche, medienvermittelte Empörungskommunikation äquivalent zur norm- und wertsetzenden Funktion kirchlich-religiöser Kommunikation in der Vormoderne. Und wie zu Zeiten des Ablasshandels hat diese Kommunikation auch wieder einen erheblichen monetären Wert: Der Erfolg der Darstellung moralischer Abweichung bemisst sich nun freilich an Resonanz, Einschaltquoten, Auflagenzahlen und Werbeeinnahmen.
Dieser monetäre Wert zeigt auf, dass uns die vergleichende Skandalanalyse auf den neuen Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation verweist, deren deutliche Akzeleration in den 1980er Jahren zu beobachten ist. Dieser Prozess lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Dieser neben der Erosion der neokorporativen Interdependenzen von Politik und Wirtschaft wichtigste Deregulationsvorgang im neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell produzierte neue Medienorganisationen. Diese werden zu Dienstleistungsunternehmen mit beliebiger Kapitalversorgung und hohen Renditeerwartungen. Dadurch unterliegen sie einem raschen technischen Wandel, der sie durch die Nutzung der Konvergenzpotentiale der Massen- und Individualkommunikation in den „Cyberspace“ hineinführt, und sie werden ideologisch offener und flexibler. Sie generieren ihr eigenes Publikum und orientieren ihre Selektions-, Interpretations- und Inszenierungslogiken über trial und error, angewandte Publikumsforschung und an dessen Aufmerksamkeitsbedürfnissen. Sie generieren ihre eigenen Produkte und Inhalte auf der Basis von Zielgruppenkonzeptionen; sie kreieren eine eigene Zeit, indem sie sich am wettbewerbsbedingten Aktualitätstempus orientieren; und sie vernetzen Metropolen und erschließen kommunikativ neue Regionen. Die sozialräumliche Gliederung dieser Informationsökonomie folgt einem Transnationalisierungspfad, der städtische Zentren unter sich und mit ihren Regionen neu verknüpft, d.h. neue Sozialräume generiert und die territorial gebundenen politischen Institutionen einem Wettbewerb um Steuervorteile und Infrastrukturbedingungen aussetzt. Dieser nach wie vor wichtigste Deregulationsvorgang im neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verschafft der Skandalisierung gänzlich neue Entfaltungschancen, weil der entfesselte Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Publikums zur Intensivierung und Professionalisierung der Skandalberichterstattung geführt hat.
Entsprechend lässt sich feststellen, dass sich die Zahl der Skandalisierungen in den Medien insbesondere seit den 1980er Jahren deutlich erhöht hat und weiter zunimmt. Skandalisierungen werden seither in ihrer Mehrzahl durch Medien in ihrem Wettbewerb um die Aufmerksamkeit bei den Medienkonsumenten selbst produziert und zielen primär auf die als moralisch defizitär darstellbare Person. Kein Teilsystem kann sich dem neuen Aufmerksamkeitswettbewerb und -stil entziehen. Von noch unabsehbarer Bedeutung ist die massenkommunikative Neukonstitution der Ökonomie:
Auch in der Wirtschaftsberichterstattung vollzog sich eine Substituierung der Skandalisierer. Waren es noch in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Thematisierung von Umwelt- und Technikfolgerisiken soziale Bewegungen, so handelt es sich nun um etablierte politische Akteure, auf Medienevents spezialisierte NGO’s (z.B. Greenpeace) und vor allem um die Medien selbst. Sie verdrängen als „Enthüller“ teilweise die sozialen Bewegungen und Protestparteien, die diese Funktion traditionell innehatten.
Im Kontext der ausgeprägten Personalisierung auch der Wirtschaftsberichterstattung wurde die unpersönliche Form der Darstellung von Unternehmen und die „Wir-Kommunikation“ der Selbstdarstellung durch eine hochpersonalisierte Kommunikation abgelöst, welche die Reputation von Unternehmen immer mehr auf die Bewertung ihrer Führungsfiguren reduziert. Damit wird die historisch gewachsene Reputation von Unternehmen folgenreich durch die Reputation ihres aktuellen Führungspersonals verdrängt. Zum einen lockert sich dadurch die Pfadabhängigkeit von Organisationen, weil mit der Erosion der gewachsenen Organisationsreputation auch die damit verbundene Selbstverpflichtung abnimmt; zum anderen wird das Unternehmen von der volatilen, persönlichen Reputation ihres Führungspersonals und dessen „Rating“ im entsprechenden „Starsystem“ für Manager abhängig. Zum dritten vergrößert sich der Widerspruch zwischen der auf die Medien hin orientierten, also personalisierten Außenkommunikation von Unternehmen und ihrer nach wie vor „wir-orientierten“ Binnenkommunikation. Dadurch ist die Binnenkommunikation einem Glaubwürdigkeitszerfall ausgesetzt.
Schließlich ist seit den 1980er Jahren eine weitgehende Angleichung der Selektions- und Interpretationslogiken der Wirtschaftsberichterstattung an diejenigen der politische Berichterstattung zu konstatieren, ein beispielloses Wachstum des Wirtschaftsressorts und eine tendenzielle Verwischung der Ressortgrenzen zwischen Politik und Wirtschaft. Die neuen, auf die Maximierung der Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten ausgerichteten Selektions- und Interpretationslogiken konstruieren den Lauf der Dinge wieder – wie die alte Geschichtsschreibung – als Produkt von Charismatikern und Versagern, von Helden und Bösewichten, also als Ergebnis von Menschen und Taten und nicht von „Verhältnissen“, welche die Menschen, ihre Taten und ihre Wirkungen erst erklären können. Diese Regression medienvermittelter Kommunikation auf die Person ist ursächlich für den Wandel der seismographischen Funktion öffentlicher Kommunikation von der Problematisierung von Zuständen hin zur Skandalisierung von Personen. Der zivilisatorische Fortschritt gegenüber den öffentlichen Hinrichtungen der Vormoderne – in der das personalisierte Böse auch schon vor aller Augen getilgt werden musste – bemisst sich in der Spätmoderne daran, dass es „nur“ noch um den sozialen Tod des Delinquenten geht. Unterhaltend ist beides.
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