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Der ehrbare Kaufmann – Unternehmensverantwortung „light“?

Thomas Manns Meistererzählung „Die Buddenbrooks“ lobt den „ehrbaren Kaufmann“. Angesichts von Finanzkrise und Wirtschaftsskandalen erscheint dieser manchen als ein Leitbild für Wirtschaftslenker der Gegenwart. Doch Märchenstunden für das Management können in die Irre führen. In dem Konzept sind „Ursachenbeschreibung“ und „Therapievorschlag“ zu einfach.

Von Thomas Beschorner und Thomas Hajduk

„Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!“ Das ist die oberste Maxime, die der Kaufmann Johann Buddenbrook seinen Nachfolgern mit auf den Weg gibt. Thomas Manns 1901 erschienener Roman „Die Buddenbrooks“ hat wie keine andere literarische Darstellung das Bild des „ehrbaren Kaufmanns“ geprägt. Die Figur des Kaufmanns Johann Buddenbrook ist standfest, umsichtig, asketisch und ein gut kalkulierender wie auch berechenbarer Geschäftspartner, der sich für das Gemeinwesen einsetzt.

Manns Meistererzählung um den Aufstieg und Fall einer hanseatischen Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert transportiert auch dessen Melancholie über das Ende einer Epoche. Noch ehe die Moderne angebrochen ist, wirken die Buddenbrooks überlebt, der neuen Welt nicht gewachsen. Umso erstaunlicher ist es, dass über 100 Jahre später aus dieser Melancholie eine Forderung nach der Renaissance des „ehrbaren Kaufmanns“ erwächst.

In den letzten Jahren sind Rufe laut geworden, man möge sich angesichts zahlreicher Skandale und des geringen Vertrauens in die Wirtschaft am „Leitbild des ehrbaren Kaufmanns“ orientieren. In Reden, Artikeln und im Internet werden die Tugenden dieser Figur gelobt: Fleiß, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit etwa. Diese und andere (Wirtschafts-) Tugenden, gepaart mit einer humanistischen Grundbildung und wirtschaftlichem Fachwissen, ließen sich vom Mittelalter bis in die Gegenwart immer wieder nachweisen, seien also gleichsam „zeitlos“ gültig.

Vor dem Hintergrund massiver moralischer Verfehlungen von Unternehmen (Korruption, Bilanzmanipulationen, Betrug usw.) sei es gerade dieser Tage geboten, sich auf jene Tugenden zu besinnen. Der „ehrbare Kaufmann“ soll zudem in die Ausbildung künftiger Manager integriert werden. Tugendhaftes Verhalten soll mit dem Nachwuchs in gewisser Weise eingeübt werden, ja letztlich soll er sich in Form eines Manager-Eids ausdrücklich dazu bekennen.

Der Vorschlag ist ebenso sympathisch wie einfach, und dies sind wohl die Hauptgründe für die Attraktivität der Metapher. Wir alle wünschen uns tugendhafte Menschen. Und wenn wir über moralische Probleme und ihre Beseitigung in der Wirtschaft nachdenken, dann ist selbstredend klar, dass die moralischen Orientierungen von Personen (Unternehmer, Manager, alle Mitarbeiter) – in der Wissenschaft spricht man von Individualethik – für wirtschaftsethische Fragen wichtig sind.

Metapher oder Konzept?

Uns sind sowohl die „Ursachenbeschreibung“ und der daraus resultierende „Therapievorschlag“ zu einfach. Der „ehrbare Kaufmann“ ist kein Konzept, mit dem es weitblickend gelingen kann, Verantwortung in der Wirtschaft zu realisieren. Personale Tugenden sind für ein angemessenes Verständnis von Unternehmensethik notwendig, nicht jedoch hinreichend. Bei dem „ehrbaren Kaufmann“ handelt es sich um eine Metapher, deren Übertragbarkeit ins 21. Jahrhundert zudem mit Vorsicht angegangen werden muss.

Der „ehrbare Kaufmann“ ist ein retrospektives Leitbild und bezieht sich auf eine Welt, die im Vergleich zur Gegenwart wesentlich übersichtlicher wirkt. Seinen Ursprung hat der Begriff im Spätmittelalter, als Kaufleute sich in einflussreichen Gilden organisieren und als Stand einen eigenen Ehrbegriff entwickeln. Die Blütezeit des „ehrbaren Kaufmanns“ erblicken seine Vertreter in der italienischen Renaissance und der nordeuropäischen Hanse der Frühen Neuzeit.

Der von dieser Geschichte abgeleitete „ehrbare Kaufmann“ agiert nicht selbstlos tugendhaft, sondern um seiner Ehre willen. Was darunter zu verstehen ist, hängt von der jeweiligen Zeit und dem Kontext ab. Heute verstehen wir unter Ehre so viel wie „guter Ruf“ (u.a. im Grundgesetz und Strafgesetzbuch) und Reputation. Um der Reputation willen und ausgestattet mit einem gewissen Pflichtbewusstsein betrügt man nicht, man hält sich an Verträge, schließt diese gar nur mit bloßem Handschlag ab und ist ein verlässlicher Partner. Es ist diese Triebfeder, die den ehrbaren Kaufmann motiviert, sich „anständig“ – dem Stande entsprechend – zu verhalten, weil ansonsten der eigene soziale Status und damit das Geschäft in Gefahr gerät. Das ist ökonomisch kluges Management. Die Tugenden des „ehrbaren Kaufmanns“ sind nicht die Kardinals- oder Primärtugenden eines (republikanischen) Bürgers. Es sind (sekundäre) Wirtschaftstugenden.

Folklore und Ideologisierung

Inwiefern aus solchen „historisch belegten“ Tugenden ein heute gültiges Leitbild abgeleitet werden kann, ist fragwürdig. Die erhaltenen Quellen jener Zeit zeugen von dem Selbstverständnis ihrer Zeitgenossen und von sonst nichts. Es ist wissenschaftlich äußerst problematisch, wenn diese Quellen mit dem Ziel untersucht werden, die „praktischen Erfahrungen zu einem von ideologischen Elementen bereinigten Gesamtbild zusammenzusetzen“, um ein „allgemeingültiges und vor allem zukunftsfähiges Leitbild zu formulieren“, wie dies von Wissenschaftlern am Institut für Management an der Humboldt-Universität in Berlin versucht wird. Der Hansekaufmann wird so zum Vorbild für eine Zeit, die ihm weder sprachlich verständlich noch allgemein vorstellbar gewesen wäre, wie auch umgekehrt dem heutigen Manager der Hansekaufmann im Grunde fremd ist. Begriffe wie „Ehre“ haben sich in den vergangenen Jahrhunderten zu oft gewandelt und veränderten Kontexten angepasst, als dass sie einfach in die Gegenwart geholt werden könnten.

Was dem Leser vielleicht wie spitzfindige wissenschaftliche Einwände vorkommen mag, entpuppt sich bei einer näheren Betrachtung jedoch als sehr bedeutend für ein – auch praktisches – Verständnis von Unternehmensverantwortung. Die Fürsprecher des „ehrbaren Kaufmanns“ haben nämlich noch eine Pointe parat: Die Ehre und die Tugend des Kaufmanns reiche für eine Unternehmensethik aus. Er „braucht keinen Kodex guter Corporate Governance“, so der renommierte Berliner Betriebswirtschaftler Professor Horst Albach. Und für die Fachdisziplin der Betriebswirtschaftslehre wird daraus gar abgeleitet, dass es „Ethik“ oder „Verantwortung“ nicht bedarf, weil sie bereits auf ethischen Prinzipien beruhe. Ökonomisch kluges Management sei gleichbedeutend mit Ethik. Damit freilich sind wir mit dem „ehrbaren Kaufmann“ nicht mehr nur bei folkloristischen Erzählungen, sondern in der Religion, in der Glaubenssätze postuliert werden.

Ein einsamer Mensch

Was können wir mit dem „ehrbaren Kaufmann“ in einer Welt, die durch Internationalisierung, Diversität, Wertepluralismus und neue (mediale) Interaktionsformen gekennzeichnet ist, noch anfangen? Unsere Antwort lautet: nicht mehr viel, und wir sehen dies insbesondere in der „autistischen“ Konzeption dieser Figur begründet. Der „ehrbare Kaufmann“ ist im Grunde ein einsamer Mensch. Er weiß, was richtig und gut ist. Er gibt seinen Mitarbeitern Anweisungen; Zuhören kann er nicht. Es braucht keine institutionellen Regeln oder einen „Kodex guter Corporate Governance“.

Unternehmensverantwortung im 21. Jahrhundert verlangt in etwa das Gegenteil des Beschriebenen – und das wissen viele Unternehmen auch.

Es bedarf, erstens, institutioneller Regeln und Strukturen im Unternehmen ebenso wie in der Gesellschaft. Eine Individualethik, auf die der „ehrbare Kaufmann“ abzielt, ist daher unbedingt durch eine Institutionenethik zu ergänzen.

Zweitens, der Pluralismus an individuellen Werten und Haltungen erfordert offene, partizipative und letztlich legitimierte Mittel, um gemeinsame Werte zu bestimmen. Das können etwa dialogorientierte Praktiken leisten, wie wir sie in verschiedenen Formen heute schon als Dialoge von Unternehmen mit ihren Anspruchsgruppen (sogenannte Stakeholder- oder Multi-Stakeholder-Dialoge) kennen.

Drittens, der „ehrbare Kaufmann“ ist kein Unternehmer, sondern Typ „braver Amtmann“: solide, zuverlässig, maßvoll, nüchtern, auch etwas bieder. Wie passen in dieses geordnete Ideal aber jene gefeierten kreativen Zerstörer, die heute Vorbild vieler (Jung-)Unternehmer sind? Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Bill Gates gelten als visionäre Unternehmer, die trotz oder gerade wegen ihrer ambivalenten Persönlichkeit und mangels mancher Sekundärtugend erfolgreich waren. Selbst verehrte Unternehmer der alten Schule wie Axel Springer oder Alfried Krupp sind nicht frei von widersprüchlichem Verhalten.

Viertens sind Werte notwendig, die nicht nur regionale Bedeutung haben, sondern kulturübergreifend Geltung besitzen, Werte für Weltwirtschaftsbürger. Internationale Leitlinien wie die ISO 26000 und Beispiele unternehmerischer Selbstregulierung wie der Marine Stewardship Council können mögliche Annäherungen sein. Neu ist diese Idee nicht. Schon im Mittelalter entwickelten Kaufleute ein Gewohnheitsrecht einschließlich eigener Gerichte, mit dem sie unabhängig von städtischer und fürstlicher Rechtsprechung ihre grenzüberschreitenden Geschäfte regelten. Diese Logik, der so genannten „Lex Mercatoria“, hat im Gegensatz zum „ehrbaren Kaufmann“ bis heute überlebt.


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