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Arbeitnehmer-Mitsprache an Unternehmensspitze in Europa weit verbreitet

In 18 von 28 EU-Mitgliedsstaaten und in Norwegen haben Arbeitnehmervertreter das Recht, im Aufsichts- oder Verwaltungsrat mitzuentscheiden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung von Aline Conchon für das European Trade Union Institute (ETUI) im Rahmen eines Forschungsprojekts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Demnach sind obligatorische Arbeitnehmervertretungen an der Unternehmensspitze so weit verbreitet, dass sie als „zentrale Komponente des europäischen Sozialmodells“ gelten können, schreibt die Wissenschaftlerin.

Düsseldorf (csr-news) – In 18 von 28 EU-Mitgliedsstaaten und in Norwegen haben Arbeitnehmervertreter das Recht, im Aufsichts- oder Verwaltungsrat mitzuentscheiden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung von Aline Conchon für das European Trade Union Institute (ETUI) im Rahmen eines Forschungsprojekts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Demnach sind obligatorische Arbeitnehmervertretungen an der Unternehmensspitze so weit verbreitet, dass sie als „zentrale Komponente des europäischen Sozialmodells“ gelten können, schreibt die Wissenschaftlerin.

Anders als häufig angenommen sei die Mitbestimmung nicht an eine dualistische Unternehmensführung geknüpft, bei der, wie in Deutschland, Geschäftsführung und Aufsichtsrat voneinander getrennt sind. Auch in Ländern, in denen Unternehmen traditionell über den Verwaltungsrat als einziges Führungsgremium verfügen, könnten Beschäftigte auf dieser Ebene mitreden, etwa in Frankreich oder Schweden. Das heißt: Ein Unternehmen, das die Voraussetzungen erfüllt, ist dazu verpflichtet, Arbeitnehmer in sein Führungsgremium aufzunehmen. In den nordischen Ländern sind es die in den Unternehmen präsenten Gewerkschaften, die entscheiden, ob und wie sie ihre Rechte im Verwaltungsrat wahrnehmen möchten.

Allerdings zeigen sich beträchtliche Unterschiede über die Art und Weise der Mitbestimmung in den einzelnen Ländern. Conchon hat drei unterschiedliche Gruppen identifiziert. So gelten in 12 EU-Ländern sowie in Norwegen die Mitbestimmungsrechte im öffentlichen wie im privaten Sektor, also in staatlichen Unternehmen ebenso wie in Aktiengesellschaften und GmbHs. Dazu zählen Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowakei, Slowenien und Ungarn. „Paritätische Zusammensetzung wie in Deutschland wird allerdings in keinem der Länder erreicht“, schreibt die Autorin. Dafür greift die Unternehmensmitbestimmung jedoch in den meisten dieser Länder schon in viel kleineren Unternehmen als in Deutschland. So haben Arbeitnehmer in Schweden schon in Firmen mit mindestens 25 Beschäftigten Anspruch auf Vertretung an der Unternehmensspitze. In Dänemark liegt die Untergrenze bei 35, in der Slowakei bei 50, in den Niederlanden bei 100 und in Österreich bei 300 Mitarbeitern. In Deutschland sehen die Gesetze dagegen erst in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat vor. Zur zweiten Gruppe gehören Länder wie Griechenland, Irland, Polen, Portugal, Spanien und Tschechien, in denen sich die Mitbestimmung auf staatliche Unternehmen beschränkt. Und in der dritten Gruppe mit Ländern wie Belgien, Bulgarien, Estland, Großbritannien, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und Zypern, findet Mitbestimmung überhaupt nicht statt.

Finanzkrise hat Mitbestimmung geschwächt

Die Regeln in einzelnen Ländern seien nicht statisch, sondern wandelten sich ständig, betont Conchon. Insbesondere die längst noch nicht überall bewältigte Finanzkrise könne weitere Veränderungen nach sich ziehen – im Guten wie im Schlechten: Mehr Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung in der Corporate Governance könnten ein wichtiges Mittel sein, die Unternehmen nachhaltiger und leistungsfähiger zu machen. Es gebe Belege dafür, dass europäische Länder mit weitreichenden Mitbestimmungsrechten eine deutlich bessere wirtschaftliche Entwicklung zeigen als Länder mit vergleichsweise wenigen Rechten. Das zeige das Beispiel Deutschland: Dass die Bundesrepublik besonders gut durch die Krise gekommen ist, sei unter anderem dem deutschen Mitbestimmungssystem zu verdanken. Auch das Europäische Parlament und die EU-Kommission hätten anerkannt, dass die Beteiligung von Arbeitnehmern helfen könnte, Krisen zu vermeiden.

Trotzdem sei die Mitbestimmung gerade in den am stärksten von der Krise betroffenen Nationen geschwächt worden. Besonders in Irland, Griechenland und Spanien seien viele Unternehmen auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank privatisiert worden. Mit der Privatisierung sei die Mitbestimmung in den betroffenen Firmen praktisch abgeschafft worden, da Arbeitnehmervertreter in diesen Ländern ausschließlich in Staatsunternehmen vorgesehen seien. Mitunter schränken auch die nationalen Gesetzgeber das Recht auf Mitsprache ein, so wie in Tschechien: Das tschechische Parlament habe 2012 ein neues Gesellschaftsgesetz verabschiedet, das die bis dahin obligatorische Beteiligung von Arbeitnehmern in Privatunternehmen außer Kraft setzte.

Regulatorischer Wettbewerb

Auf gesamteuropäischer Ebene droht nach Analyse der Forscherin ebenfalls Gefahr: Es zeichne sich ein „regulatorischer Wettbewerb“ ab, konstatiert Conchon. Unternehmen hätten die Möglichkeit, sich verschiedene einzelstaatliche regulatorische und gesetzliche Rahmen auszusuchen, um schließlich die weichsten Vorgaben auszuwählen. Die Verpflichtung, eine Arbeitnehmervertretung einzusetzen, lasse sich auf diese Weise beispielsweise im eigenen Land beim Wechsel von einer dualistischen zur einstufigen Form der Unternehmensüberwachung umgehen. Neue Möglichkeiten für Mitbestimmungsvermeider eröffne das europäische Binnenmarktrecht. Unternehmen können ihren Firmensitz in einem „arbeitnehmervertreterfreien“ Land – zum Beispiel als britische Aktiengesellschaft – eintragen lassen. Nach Daten der Hans-Böckler-Stiftung bedienen sich bereits heute 94 deutsche Unternehmen einer ausländischen Rechtsform, sie firmieren beispielsweise als „Ltd. & Co. KG“. Durch eine Lücke im deutschen Mitbestimmungsgesetz gibt es bei diesen Firmen im Aufsichtsrat keinerlei Mitbestimmung mehr.

Durch die geplante sogenannte Ein-Personen-Gesellschaft (Societas Unius Personae, SUP) könnte die Flucht vor der Mitbestimmung künftig sogar noch angeheizt werden. Die EU-Kommission will die Ein-Personen-Gesellschaften einheitlich in Europa einführen, die auch von kleinen und mittleren Unternehmen genutzt werden können. Dabei bedienen sich auch mittelständische Firmen längst der seit Jahren etablierten Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), zeigen Analysen von Wirtschaftsjuristen der Hans-Böckler-Stiftung. Auch die Gründung von Tochtergesellschaften im Ausland soll vereinfacht werden. Tatsächlich würde die EU durch die SUP „die Gründung von Briefkastenfirmen“ erleichtern, meint Conchon. Unternehmen könnten damit unter einem vermeintlich seriösen Deckmantel ihren rechtlichen Firmensitz und den Ort des operativen Geschäfts voneinander trennen – und sich aussuchen, unter welches nationale Gesellschaftsrecht sie fallen.


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