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Freiwillige Selbstverpflichtung gescheitert?

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Die Lebensmittelindustrie hat ihr Kindermarketing auf Social-Media-Kanäle verlagert. Experten fordern ein Verbot.

Berlin (csr-news) > Kinder sind nach wie vor eine beliebte Zielgruppe der Lebensmittelindustrie. Mehr als 60 Prozent aller Webseiten für Lebensmittel beinhalten spezielle Elemente, mit denen Minderjährige gezielt zum Konsum animiert werden sollen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Universität Hamburg im Auftrag der AOK. 301 Internetseiten haben die Hamburger Forscher untersucht und dabei vor allem Kindermarketingmaßnahmen und Nährwertangaben im Blick gehabt. Auf 182 Seiten wurde zumindest ein direkt dem Kindermarketing zurechenbares Element gefunden. Wendet man eine erweiterte Definition des Kindermarketing-Begriffs an, sind es sogar 250 Webseiten. Dabei haben die Forscher auffällig viele Unternehmen gefunden, die sich eigentlich auf EU-Ebene freiwillig dazu verpflichtet haben, auf das Kindermarketing ganz zu verzichten.

Typisch für Kindermarketing ist der Einsatz von Prominenten

Das eigentlich Problem dabei: Auf den Internetseiten werden nicht etwa Äpfel oder Brokkoli beworben, sondern vor allem Produkte mit zu hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt, die das Risiko einer kindlichen Adipositas stark erhöhen. „Damit wir dieses Problem in den Griff bekommen, brauchen wir vor allem im Onlinebereich und TV ein Kindermarketingverbot für Lebensmittel“, fordert deshalb Kai Kolpatzik, Abteilungsleiter Prävention beim AOK-Bundesverband.

Laut Hochrechnung der Universität Hamburg kommen Kinder täglich zwischen acht und 22 Mal mit Online-Werbeaktivitäten von Lebensmittelherstellern in Kontakt. Typisch für Kindermarketing ist der Einsatz von Prominenten, Comics sowie Onlinespielen. „Vor allem im Bereich der sozialen Medien haben die Lockrufe von Süßwarenherstellern und ähnlichen Anbietern deutlich zugenommen“, warnt Tobias Effertz, Studienleiter und Privatdozent an der Universität Hamburg. „Damit werden Kinder immer häufiger und drastischer von Werbung für ungesunde Lebensmittel angesprochen, ohne dass deren Eltern dies wirksam verhindern können.“

Bei der Ausweitung des Kindermarketings im Onlinebereich spielt die Vernetzung von Internetauftritten der Unternehmen mit sozialen Medien wie Facebook und Co. eine besondere Rolle: Das „Liken“ und Teilen solcher Beiträge sorgt laut Effertz zum einen dafür, dass sich Kinder anders als bei Fernsehwerbung aktiver mit den Werbeinhalten auseinandersetzen. Zum anderen profitieren die Unternehmen von einem besonders starken Multiplikatoreneffekt. „Die direkte Empfehlung und Weitergabe von Onlineinhalten durch Freunde erzeugt im Regelfall eine besonders hohe Glaubwürdigkeit“, erklärt Effertz.

Schattenseite der mobilen Welt

Die Studie zeigt auch, dass viele Unternehmen Kinder und Eltern täuschen. So sind es vor allem Produzenten von für Kinder ungeeigneten Lebensmitteln, die im Internet oder auf der Verpackung ihrem Produkt einen Gesundheitsnutzen suggerieren. Kolpatzik sieht diese Entwicklung kritisch: „Die mobile Welt zeigt in diesem Fall besonders deutlich ihre Schattenseite. Junge Menschen sind heutzutage überall und jederzeit erreichbar und damit ein stückweit der Industrie und ihren Tricks ausgeliefert. Es ist ärgerlich, wenn wir als AOK in Schulen und Kindergärten über gesunde Ernährung aufklären und dieses Engagement gleichzeitig von der profitorientierten Lebensmittelindustrie durch aggressive Marketingstrategien konterkariert wird.“

Beide Gesundheitsexperten äußern sich besorgt, dass die freiwillige Selbstverpflichtung von Unternehmen im Rahmen des sogenannten EU-Pledge, kein Lebensmittelmarketing bei Kindern zu betreiben, wirkungslos bleibe. Sie verweisen darauf, dass Unternehmen, die die Selbstverpflichtung eingegangen sind, im Social-Media-Bereich noch stärker als die Nicht-Teilnehmer werben. Außerdem sei im Vergleich zu ähnlichen Stichproben aus den Vorjahren das Ausmaß genutzter Kindermarketingmaßnahmen bei Pledge-Mitgliedern eher angestiegen. „Der EU-Pledge, die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie, kein Lebensmittelmarketing an Kinder zu richten, führt zu keinem messbaren Unterschied in der Ansprache im Vergleich zu Webseiten von Nichtpledge-Unternehmen. Der EU-Pledge ist damit im Onlinebereich wirkungslos. Im Vergleich zum Spielzeugmarketing, das man zweifelsfrei als an Kinder gerichtet klassifizieren kann, nutzt das Lebensmittelmarketing ähnliche Ansprachetechniken“, heißt es in der Studie. Zwar sei das Ausmaß des Kindermarketings im Internet in der vergangenen fünf Jahren ungefähr gleichgeblieben, allerdings würde der Bereich der sozialen Medien einen starken Aktivitätsanstieg anzeigen, speziell bei Non-Core-Food-Produkten von EU-Pledge-Mitgliedern an. Insgesamt hätte sich das Risiko für Kinder, der Werbeansprache potenziell adipogener Lebensmittel ausgesetzt zu sein, drastisch erhöht.

Zusammenhang zwischen Kindermarketing und Adipositas belegt

Der aktuelle Pro-Kopf-Zuckerverbrauch in Deutschland liegt bei 32 Kilogramm im Jahr. Damit bewegt sich der Zuckerkonsum hierzulande in den letzten Jahren mit täglich 90 Gramm pro Person auf einem deutlich zu hohen Niveau. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, den Zuckerkonsum auf zehn Prozent der täglichen Gesamtenergiezufuhrmenge zu begrenzen, das entspricht für Erwachsene höchstens ca. 50 Gramm und für Kinder höchstens ca. 25 Gramm pro Tag. Ein großes Problem dabei stellt der künstlich zugesetzte Zucker in einem Großteil unserer Lebensmittel dar. So enthalten etwa 80 Prozent der im Supermarkt erhältlichen Lebensmittel zusätzlichen Zucker. Der Anstieg von Volkskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes sowie hohe gesundheitsökonomische Kosten sind die Folgen. Rund 18 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen in Deutschland sind übergewichtig oder adipös. Eine umfassende Analyse der WHO aus 2008 konnte bereits zeigen, dass Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel Einfluss auf Ernährungswissen, Lebensmittelpräferenzen und Konsumverhalten von Kindern hat. Darüber hinaus belegen Studien einen Zusammenhang zwischen Kindermarketing und Adipositas bei Kindern.

Die Marketingmethoden der Lebensmittelindustrie werden auch auf dem 1. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel diskutiert, den der AOK-Bundesverband erstmalig am 28. Juni in Berlin veranstaltet.

 

 


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