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„Schwindelerregende Gesellschaft“: Prof. Thomas Beschorner im Interview

Prof. Dr. Thomas Beschorner (Foto: Universität St. Gallen)

Neue Partizipationsformen und die Ethik des Digitalen

St.Gallen (csr-news) – Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung: Umbruchprozesse verunsichern, einfache Antworten erscheinen manchen in einer zunehmend unübersichtlichen Welt besonders attraktiv. Was die gesellschaftlichen Umbruch- und Neuorientierungsprozesse für die Ethik, für Kommunikation und gesellschaftliche Partizipation bedeuten, darüber sprach das CSR MAGAZIN mit Prof. Thomas Beschorner, der an der Universität St. Gallen Wirtschaftsethik lehrt und aktuell zur Roboterethik forscht. Das Gespräch führte Achim Halfmann.

CSR MAGAZIN: Ihr neues Buch lautet „In schwindelerregender Gesellschaft“. Wer schwindelt da? Und warum?

Prof. Dr. Thomas Beschorner: Ich spiele in meinem Buch mit dem Begriff des „Schwindels“ in seiner doppelten Bedeutung. Einerseits meint das Wort physische Schwindelgefühl – zum Beispiel Höhenangst – aber ebenso auch ein Schwindelgefühl im sozialen Raum. Für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft verändert sich zu vieles zu schnell. Alles erscheint ihnen schneller, alles fragmentierter: die Veränderungen durch Digitalisierung, der Klimawandel, eine abnehmende Biodiversität, die Frage nach unseren natürlichen Lebensgrundlagen und die Flüchtlingskrise. In der Zukunft werden wir es mit massiven Wertkonflikten zu tun haben. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir Orientierung finden, um unser Zusammenleben zu gestalten.

Wenn es stimmt, dass wir es mit einer zunehmenden Verunsicherung zu tun haben, dann ist das eine gute Zeit für diejenigen, die einfache Narrative präsentieren. Das ist die zweite Bedeutung des Begriffs Schwindel. Es ist kein Zufall, dass wir inzwischen zahlreiche Regierungschefs auf unserer Welt haben – Trump allen voran –, die mit sehr einfachen Geschichten daherkommen. Schwindler bieten einfache Freund-Feind-Bilder, bieten Orientierung – und viele greifen gerne zu. Wahrheit wird damit zur Verhandlungssache.

Wie können Unternehmen und die Zivilgesellschaft in einer solchen Atmosphäre kommunizieren?

Wichtig bleibt es, die demokratischen Werte hochzuhalten. Zu den demokratischen Werten gehört eine vernünftige Kommunikation, eine vernünftige Verständigung: ein Modus, wie wir uns gegenseitig begründete Gründe geben, warum wir Dinge so sehen, wie wir sie sehen. Zugleich sollten wir jedoch ernst nehmen und besser verstehen, wie Individuen funktionieren. Wir haben es mit einem neuen Ich zu tun, das anders funktioniert als das klassische Ich: Es will sich stark emotional erleben, will sich ausprobieren, definiert sich über Singularität, wie es der Soziologe Andreas Reckwitz oder die Philosophin Isolde Charim nennen. Wir wollen alle etwas Besonderes sei.

Dabei trifft das neue Ich auf eine alte Welt, schreiben Sie in Ihrem Buch.

Genau, nimmt man die beiden zuvor genannten Ebenen, sehen wir genau da einen Gap: Auf der einen Seite steht eine alte Institutionenordnung – klassisch demokratisch – mit Wahrheit oder intersubjektiver Verständigung – und auf der anderen ein neues Ich, emotional und erlebnisorientiert. Das ist nicht kompatibel und führt zu Gleichgewichtsstörungen in der modernen Welt – um in der Schwindelmetapher zu bleiben.

Deshalb sollten wir, so mein Vorschlag, über neue Formen der Partizipation nachdenken, die ein emotionales Erleben der Individuen ermöglichen, Formate, in denen die Menschen mit ihren Anliegen wieder vorkommen. Die Zeiten richtungsweisender Ansagen vom Stehpult sind zunehmend vorbei. Individuen wollen mitmachen und gehört werden, sie wollen selber sprechen.

Ich habe keine Patentlösung für diese Problembeschreibung und vermutlich gibt es sie sowieso nicht, bin aber überzeugt, dass wir genau in diese Richtung denken müssen. Es geht um neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe, neue Formate, Events.

Gibt es Beispiele, die in diese Richtung gehen?

Ein gutes Beispiel bietet die Initiative der Wochenzeitung DIE ZEIT, „Deutschland spricht“. Dort kann man sich bewerben und dann mit jemandem in ein Zwiegespräch kommen, der in eine ganz andere Richtung denkt als man selbst. In diesen Dialogen hat man ein Gesicht gegenüber, man ringt in einem rationalen Diskursraum. Das ist etwas anderes, als sich Tweets um die Ohren zu hauen.

Unsere Medien erscheinen mir in dieser Hinsicht bisher insgesamt wenig innovativ. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wieso man nicht in viel stärker Art und Weise die Kommentare der Leserinnen und Leser aufgreift. In vielen Blättern finden Diskussionen mit Leserinnen und Lesern überhaupt nicht statt. Dabei muss die journalistische Arbeit mit der Einreichung des fertigen Artikels kein Ende finden: da kann man mehr Phantasie entwickeln, Partizipationsformen in unterschiedlichen Bereichen gestalten. Auch die Zivilgesellschaft und die Politik sollte sich neu erfinden, Nichtregierungsorganisationen und politische Parteien sind gefordert, sich neue Modelle zu überlegen, wie sie mit Menschen besser interagieren können.

Welchen Beitrag können Hochschulen zu einem solchen neuen Diskurs leisten?

Das kommt auf die Disziplin an: In den Wirtschaftswissenschaften müssen Wertefragen in stärkerem Maß diskutiert werden – nicht nur in freiwilligen und spezialisierten Lehrveranstaltungen zur Wirtschaftsethik, sondern in Verbindung mit klassischen Kernbereich der Wirtschaftswissenschaften, sei es im Bereich der BWL oder der VWL – und zwar als Pflichtbestandteil eines jeden Studiums.

Das sind Fragen, die ich auch an meiner eigenen Hochschule seit vielen Jahre diskutierte mit dem Rektorat. Ab dem Frühjahr 2020 wird es in St. Gallen nun einen Pflichtbestandteil zu Fragen der Unternehmensverantwortung im 1. Studienjahr für 1.800 Studierende geben. Endlich, will ich ergänzen, denn wenn wir Studierende nur beibringen, wie sie in Unternehmen Gewinne maximieren und nicht nach rechts oder links gucken, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie später genau danach handeln und Verantwortungsfragen keine Rolle spielen.

Für manche hängen Kommunikations- und Demokratiedefizite mit der Macht der großen Social Media-Konzerne zusammen und sie fordern deren Zerschlagung.

Was bedeutet Zerschlagung eigentlich? Plattformunternehmen leben von Netzwerken, also davon, dass sich Menschen vernetzen. Bezogen auf Facebook wäre ein „Freundeskreis“ von 50 Menschen relativ langweilig. Wenn man Plattformunternehmen zerschlagen will, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass man ihnen ihre Geschäftsgrundlage entziehen. Das kann man machen, aber man muss sich der Konsequenzen bewusst sein.

Was wir vorschlagen, ist etwas anderes, nämlich ein Zulassungsverfahren für Plattformunternehmen. Das bedeutet: Wenn ein Unternehmen mit einer Geschäftsidee auf den Markt geht oder wenn Facebook seinen Algorithmus ändert, dann braucht das eine Zulassung. Dabei geht es im Kern um die Beantwortung der Fragen: Was sind mögliche Risiken? Und: Was ist der Nutzen dieser Plattform für die Gesellschaft?

Es gibt verschiedene gute Beispiele aus anderen Branchen, insbesondere aus dem Pharmabereich, wo in Zulassungsverfahren Tests zu Risiken und Nebenwirkungen gefordert werden. Die grundlegende Idee dabei lautet: Häufig haben es mit einem Hase-und-Igel-Spiel zu tun: Unternehmen sind innovativ. Daraus resultieren Konsequenzen für Gesellschaft. Die Politik reagiert mit Gesetzen. Aber die Unternehmen sind schon wieder weitergeeilt … In der Technologiebranche mit extrem kurzen Innovationszyklen läuft die Politik ständig hinter den Entwicklungen her. Und genau das muss durchbrochen werden: Es geht um eine Umkehr der Beweislast, Unternehmen müssen Rechenschaft ablegen – und zwar vor der Markteinführung einer Dienstleistung.

Das Thema Wirtschaftsethik haben Sie bereits angesprochen. Wie steht es um die Ethik des Digitalen?

Hier lassen sich aus meiner Sicht besonders zwei Herausforderungen unterscheiden: Zum einen wird uns die Mensch-Maschine-Interaktion beschäftigen. In der Zukunft werden Roboter unsere Kollegen im Beruf, unsere Assistenten in der Familie und unsere Helfer in der Pflege sein. Roboter werden zu einem Teil unserer sozialen Welt. Aus ethischer Perspektive hängt daran natürlich die Frage, was solche Roboter dürfen sollen. Es geht also einerseits um die Verantwortung gegenüber dem Menschen. Wir sollten uns andererseits frühzeitig aber auch über die andere Perspektive Gedanken machen: darüber, welche Verantwortung wir als Menschen gegenüber Robotern und Maschinen tragen. Das klingt kontraintuitiv, ist bei genauerer Betrachtung aber ein wichtiges Thema.

Eine zweite Herausforderung wird die – digital fundierten – gesellschaftlichen Scoring-Systeme betreffen, wie sie im nächsten Jahr umfassend in China eingeführt werden sollen. In Abhängigkeit des Social Scoring resultieren für den Einzelnen Vor- oder Nachteile. Gutes Verhalten wird belohnt, schlechtes Verhalten wird bestraft. Er oder sie darf bei tadelhaftem Verhalten beispielsweise bestimmte Flüge nicht mehr buchen oder sein Kind nicht auf bestimmte Schulen schicken. Science Fiction aus der Serie Black Mirror? Ja, das auch. Ebenso jedoch schon Realität!

Das, was wir im großen Umfang in China erleben, sehen wir in kleineren Facetten auch in der westlichen Welt. In Amerika etwa dienen Scores als Grundlage für Entlassungs- und Bewährungsentscheidungen bei Häftlingen. Da gilt es genau hinzuschauen, wie dieser Algorithmus zu seinen Ergebnissen kommt und welche Diskriminierungen dabei einfließen. Ein Social Scoring ist auch in der westlichen Welt Realität.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Buch „In schwindelerregender Gesellschaft. Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt“ von Thomas Beschorner ist im Oktober 2019 im Murmann Verlag erschienen. > Weitere Informationen


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